Kiss The Future – Berlinale Special
(Foto: © Bill S. Carter / Not Us Ltd)
Gleich mehrere Filme der diesjährigen Berlinale haben den Angriff Russlands auf die Ukraine zum Thema; ein Krieg, den viele in Europa bis zuletzt nicht für möglich gehalten hätten. Parallelen zum ersten großen Tabubruch in Europa nach dem zweiten Weltkrieg finden sich im Krieg zwischen den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens in den neunziger Jahren, direkt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des kalten Krieges: Völkermord, Konzentrationslager und Angriffe auf die Zivilbevölkerung – ein Albtraum, den viele Menschen in Europa bis dato für undenkbar hielten.
(Radiobeitrag für Filmriss – Das Berlinalemagazin)
Der Dokumentarfilm „Kiss The Future“ führt uns zurück in diese dunklen Stunden Europas. Fast vier Jahre dauerte die Belagerung der Stadt Sarajevo durch serbische Truppen an, die die Bevölkerung der Stadt durch Aushungern, Granatattacken und Dauerfeuer von Scharfschützen nicht nur in die Knie zwingen, sondern regelrecht vernichten wollten – bis schließlich Kampfjets der NATO dem Spuk erst viel zu spät ein Ende bereiteten.
Im Mittelpunkt von „Kiss The Future“ steht eine kleinen Gruppe von Künstler:innen und Journalist:innen, die in der belagerten Stadt Rockkonzerte im Underground organisierten, sowie Fernsehsendungen mit Berichten über ein Leben unter Dauerbeschuss produzierten. Ihr Sarajevo-TV hat es schließlich per Satellit sogar in die Livekonzerte der irischen Band U2 geschafft, die sich auf ihrer damals stattfindenden Zooroopa-Tour mit Medien und Kommunikation künstlerisch auseinandersetzten und bei der zahllose Fernsehgeräte und Videoschirme integrale Bestandteile des Bühnenbilds waren. Der Film erzählt durch Originalaufnahmen von Sarajevo-TV, dem Archiv von U2, und aktuellen Interviews die Geschichte dieses Zusammentreffens, das schließlich 1997 in dem ersten großen Open Air-Konzert in Sarajevo nach Kriegsende seinen Höhepunkt fand.
Zum Katalysator der Ereignisse wurde der amerikanische Filmemacher und Autor Bill S. Carter, der damals mit einer unabhängigen Hilfsorganisation in die belagerte Stadt gekommen war, und dann die Idee zur Zusammenarbeit mit der Band hatte, welche per Fax umgesetzt werden musste – weil damals weder Internet noch Mobiltelefone auf dem heutigen technischen Niveau waren.
Regisseur Nenad Cicin-Sain, gebürtiger Slowene, hat familiäre Wurzeln in allen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens. Sein Film erzählt von Zusammenhalt, Mut, Überlebenswillen und davon, wie wichtig schwarzer Humor und künstlerische Kreativität sind, um sich die Menschlichkeit im Angesicht unvorstellbarer Grausamkeiten zu bewahren. Und zum Schluss seines Films mahnt er die Welt, nicht erneut zu lange wegzuschauen bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, egal ob sie im Iran, in der Ukraine oder an anderen Orten der Welt geschehen.
(Dieser Beitrag erschien zuerst als Radiobeitrag in der Sendung „Filmriss – Das Berlinale-Magazin“, einem gemeinsamem Projekt der norddeutschen Bürgersender Kiel FM, Lübeck FM, Westküste FM, Tide Hamburg, Radio Leinewelle und Oldenburg Eins.)