
Wild, schräg, blutig – Berlinale Retrospektive
Die Deutsche Kinemathek präsentierte in diesem Jahr einen großen Teil der Retrospektive in ihren neuen Räumlichkeiten in Berliner E-Werk, einem ehemaligen Umspannwerk und späteren Technoclub, unweit des alten Standorts Potsdamer Platz.
Dort können jetzt erstmals Filmvorführungen innerhalb der Kinemathek angeboten werden – ein Vorteil, der vom filmhistorisch interessierten Teil des Berlinale-Publikums dankbar angenommen wurde.
Inhaltlich knüpfte die diesjährige Retro an die letztjährige Reihe „Das andere Kino“ an, und präsentierte erneut Deutsches Kino der etwas anderen Art. In diesem Jahr waren Ausrichtung und Zeitrahmen jedoch etwas enger gefasst, und fokussierten sich auf das Genrekino der Siebziger Jahre.
Darüber habe ich mit Annika Haupts, der Programmkoordinatorin Deutsche Kinemathek und Kuratorin der Retrospektive gesprochen.
(Radiointerview mit Annika Haupts vom 18. Februar 2025 – erstmals in der langen Fassung)
Die Eigenbeschreibung der Kinemathek „Kultiges aus Ost- und Westdeutschland: Zur Retrospektive der Berlinale 2025 zeigen wir das grelle Genre-Kino der 1970er-Jahre.“ gibt die Richtung vor. Es geht um Produktionen im Niemandsland zwischen Bahnhofskino und neuem deutschen Autorenfilm. Zu blutig für den Kanon und zu abgefahren für den Massengeschmack. Was früher ein kommerzielles Todesurteil war, kann aus der Rückschau plötzlich cool und modern wirken. Ein Hauch Nostalgie darf dabei ebenfalls nicht fehlen, wenn es um Mode, Sprache, Musik, Autos, Einrichtungsgegenstände und Haushaltsgeräte der Siebziger geht, die in allen gezeigten Filmen zur großen Freude des Publikums zu entdecken waren.
Einige der Filme sind bereits in den letzten Jahren als Kultfilme wiederentdeckt, aufwändig restauriert und in umfangreich kuratierten Editionen fürs Heimkino auf Blu-ray oder gar UHD wieder veröffentlicht worden.
Dazu gehören Roland Klicks Quasi-Italowestern-Action-Hybrid „Deadlock“ (1970) mit Mario Adorf und Anthony Dawson, Rolf Olsens ultra-gewalttätiger Kriminalfilm „Blutiger Freitag“ (1972) mit Anklängen an die RAF-Paranoia und italienische Poliziottesco mit einem komplett in Leder gekleideten Raimund Harmstorf, sowie Roger Fritz Exploitation-Kammerspiel „Mädchen mit Gewalt“ (1972) mit Helga Anders, Klaus Löwitsch und Arthur Brauss. Allesamt Film die aufgrund ihrer teilweise drastischen Darstellungen von Sex und Gewalt berühmt und berüchtigt waren, und die heute mit Sicherheit als transgressives Kino bejubelt würden.
Dazu kommt eine ganze Reihe etwas weniger spektakulär auf die Spitze getriebener Filme, die deswegen aber nicht unbedingt stiller oder weniger grell daherkommen. Beispielsweise Hans W. Geißendörfers Vampir-Meditation „Jonathan“ (1970), die zu trippiger Krautrockmusik ein apokalyptische Mittelalterszenario entwirft, das in seiner depressiven Tristesse an die apokalyptischen Bilderwelten eines Hieronymus Bosch erinnert. Oder Wolfgang Petersens Kinodebüt „Einer von uns beiden“ (1974), in dem er seinen späteren Star aus „Das Boot“ Jürgen Prochnow und „seinen“ Tatort-Kommissar Klaus Schwarzkopf in ein mörderisches Duell aus Erpressung, Niedertracht und Bedrohung schickt, das in seiner realistischen Beklemmung nahezu einzigartig für das deutsche Kino ist.
(Publikumsgespräch mit Rudolf Thome)
Der Münchener Regisseur Rudolf Thome war tatsächlich der einzige noch lebende Filmemacher der Retrospektive, der in Berlin zu Gast war. Er präsentierte seinen Neo-Film Noir „Fremde Stadt“ (1972), in dem der oben schon genannte Fotograf und Filmemacher Roger Fritz die Hauptrolle spielt, und der mit seinen unterkühlten schwarz-weißen Bildern um eine Handvoll Gangster und korrupte Polizisten thematisch eher an des französische Gangsterkino dieser Zeit, als an damals gängige westdeutsche Produktionen anschließt.
Apropos Westdeutschland: neben den elf Produktionen aus der Bundesrepublik waren auch vier Filme der DEFA im Programm zu sehen. Bedingt durch die staatliche Kontrolle der Filmwirtschaft zu DDR-Zeiten und der strengen Zensur gab es hier deutlich weniger Filme, die aus der sozialistischen Reihe tanzten. Dazu gehören die charmant-schrägen Filmmusicals „Nicht schummeln Liebling“ (1973) von Joachim Hasler mit Schlagerstar Frank Schöbel, und „Hut ab, wenn du küßt“ (1971) von Rolf Losansky mit den späteren Theaterregisseur:innen Angelika Waller und Alexander Lang in den Hauptrollen. Mit der überdrehten Werbesatire „Nelken in Aspik“ (1976) von Günter Reisch mit dem späteren Hollywood-Star Armin Mueller-Stahl, sowie der Operette-meets-realsozialistischer-Alltag-Verfilmung von “Orpheus in der Unterwelt“ (1973) von Horst Bonnet mit Rolf Hoppe, waren zwei weitere Filme zu entdecken, die so vielleicht nicht unbedingt in den ostdeutschen Kinoalltag gehörten.
Neben all diesen rabiaten und bunten Kultfilmen aus dem geteilten Deutschland, kümmerte sich die Kinemathek auch in diesem Jahr wieder um einige internationale Klassiker in der „Berlinale Classics“ betitelten Reihe. Dazu gehörte die neu restaurierte Fassung von Don Siegels bahnbrechendem Copthriller „Dirty Harry“, der Clint Eastwood 1971 endgültig zum Superstar machte, Konrad Wolfs letzter Film „Solo Sunny“ (1980), der als einer der kommerziell erfolgreichsten Filme der DDR gilt, Alfred Hitchcocks „Der Fall Paradin“ (1947) mit Gregory Peck, der erstmals in einer neu rekonstruierten Ursprungsfassung gezeigt wurde, und der Kriegspiloten-Actionfilm „Hell’s Angels“ (1930) von Howard Hughes und James Whale, der mit den einzigen Farbsequenzen des Stars Jean Harlow glänzt.
All diese Klassiker wurden von Berlinale-Publikum dankbar angenommen. So zeigt die Berlinale erneut, dass sie ihrer filmhistorischen Verantwortung als größtes deutsche Festival gerecht wird, auch wenn die Kürzungen im Gesamtbudget des Festivals die Retrospektive in den letzten Jahren leider deutlich verkleinert hat. Dabei ist eine Rückschau wichtig, um es dem Publikum zu ermöglichen, das aktuelle Festivalprogramm thematisch und stilistisch den Klassikern gegenüberzustellen, und so neue und vertiefende Sichtweisen auf das Kino zu erlangen.
(Dieses Interview erschien zuerst als Radiobeitrag in der Sendung „Filmriss – Das Berlinale-Magazin“, einem gemeinsamen Projekt der norddeutschen Bürgersender Kiel FM, Lübeck FM, Westküste FM, Tide Hamburg, Radio Leinewelle und Oldenburg Eins.)