11 Tipps fürs Reeperbahn Festival

Vor 20 Jahren entstand in Hamburg die Idee für ein kleines Indoor-Festival mit jungen und noch unbekannten Bands. Die erste Ausgabe des Reeperbahn Festivals 2006 war allerdings nicht gleich von Erfolg gekrönt, denn im folgenden Jahr schon musste sich das Festival von 25 auf 12 Spielorte verkleinern, und sich komplett neu aufstellen. Alles Schnee von gestern, denn in diesem Jahr sind es 65 Spielorte rund um die Reeperbahn, an denen weit über 400 Bands vor 45.000 erwarteten Festivalgästen auftreten werden.

Die Mischung aus Branchentreffen und Indiepop-Festival im weitesten Sinne hat sich bewährt. Das Publikum kommt vor allem, um neue und junge Acts zu sehen, von denen viele ihre ersten Auftritte in Deutschland spielen. Dafür sorgen auch die aufwändigen Showcases bei denen an ganzen Nachmittagen bis Abenden Länderspecials geboten werden. Kanada, Estland, Korea, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Schweiz, und einige andere Länder mehr gehören, seit Jahren fest zum Programm.

Das besondere Pfund, mit dem der Hamburger Stadtteil St. Pauli wuchern kann, sind die Spielorte. Die Konzerte finden teilweise Open Air direkt auf dem Spielbudenplatz statt, oder in den zahlreichen Clubs auf dem Kiez, dazu kommen besondere Locations wie Kirchen, Theater, Elbphilharmonie – oder das Festival Village auf dem Heiligengeistfeld.

Genau so wichtig ist die schon angesprochene Rolle als Fachmesse und Businesstreffpunkt für alle, die irgendwie in der Musikindustrie arbeiten – also Konzerte veranstalten, Bands managen, Plattenlabel betreiben, oder journalistisch mit Musik zu tun haben. Vorträge, Workshops, und Diskussionsveranstaltungen befassen sich mit Musik im Spannungsfeld gesellschaftlicher Entwicklungen wie Politik, Wirtschaft, und Digitalisierung, aber auch Themen wie Demokratiestärkung, Rassismus, Gleichberechtigung und Umwelt werden behandelt.

Da diese Mammutveranstaltung mittlerweile global ausgerichtet ist, und die lokale Szene nicht immer im Blick hat, gibt es mittlerweile auch eine Ergänzung, oder vielleicht auch Gegenbewegung dazu. Außerhalb des Reeperbahn Festivals gibt es zur gleichen Zeit in diesem Jahr zum zweiten Mal das Musik-TREFFEN-Hamburg. Eine Veranstaltung von Hamburger Veranstaltungsorten wie Hafenklang, Komet, MS Stubnitz oder Golden Pudel Club, und Labeln wie Audiolith, Clouds Hill, Légère Recordings oder Bureau B, und vielen anderen. Parallel zum Reeperbahn Festival treten Die Wilde Jag, Das Paradies, Marcus Wiebusch, The Deadnotes in kleinen und günstigen Einzelkonzerten auf, die alternativ zum Festival stattfinden.

Einige dieser Bands habe ich bereits regelmäßig in der Radioberichterstattung fürs Tagesprogramm von Oldenburg Eins, oder den Sendungen Radio Globale sowie soundundvision vorgestellt. Das gilt darüber hinaus für viele Acts im offiziellen Programm des Reeperbahn Festivals 2025, wie beispielsweise MØ, Dry Cleaning, Yasmine Hamdan, Die Heiterkeit, Laura Lee & The Jettes, Anna Ternheim, Kratzen oder Christin Nichols.

Für meine Tipps in diesem Jahr habe ich wieder Bands ausgesucht, die ich noch gar nicht im Programm hatte, oder von denen ich glaube, sie hätten noch mehr Aufmerksamkeit verdient.

BC Camplight

Der amerikanische Sänger und Songschreiber Brian James Christinzio ist mittlerweile besser bekannt als BC Camplight. Ursprünglich aus New Jersey, begann er seine Karriere in Philadelphia im Umfeld von The War On Drugs und Sharon Van Etten. 2005 erschien sein erstes Album und damit war er zunächst wenig erfolgreich, hatte dafür aber einem Haufen Probleme von Alkohol, Drogenmissbrauch, über Depressionen bis hin zu unbewältigten Missbrauchserfahrungen aus der Kindheit. Dann ist er nach England gegangen, und hat sich in Manchester niedergelassen. Dort kam der Durchbruch mit Alben wie „Deportation Blues“ (2017), und zuletzt „The Last Rotation On Earth“ (2023). Auf dem neuen Album „A Sober Conversation“ stellt er sich jetzt musikalisch wie lyrisch seinen Dämonen, was der Titel „Ein nüchterne Unterhaltung“ unschwer erkennen lässt. Musikalisch bewegt er sich dabei in der Tradition großer Sänger und Songwriter wie Randy Newman, Elton John, oder Harry Nilsson. Aktuell ist er allein am Klavier auf Tour, und spielt auch solo in der St. Pauli Kirche beim Reeperbahn Festival.

Donnerstag, 18.09. 21:10h St. Pauli Kirche

Collignon

„Bicicleta“ heißt das neue Album des portugiesisch-niederländischen Trios Collignon aus Amsterdam. Gino, Yves und Jori werfen all ihre musikalischen Inspirationen in einen Topf, welcher somit erstaunlich vielseitig und eklektisch gefüllt ist. Da stehen psychedelische Sixties-Klänge neben krautigem Siebziger-Jahre-Sound, mit dem dann einmal um die Welt gefahren wird. Vermutlich mit dem Fahrrad und vorbei an brasilianischem Tropicalia, amerikanischen Surf-Sounds, Afrobeat und indischen Melodien. 2022 erschien das erste Album „Lagoinha“, dem eine lange Tournee folgte, und der ihren Ruf als groovende, entspannte, und trippige Liveband festigte.

Die ursprünglich als Soloprojekt von Keyboarder Joni Collignon gestartete Gruppe zeigt sich mittlerweile als eingespieltes Low-Fi-Groove-Monster mit latin-psychedelischen Gitarrensoli und modernem elektronischem Vibe.

Donnerstag, 18.09. 16:30h Molotow / Top 10
Freitag 19.09. 00:20h Docks / Prinzenbar (also Donnerstagnacht)

Dressed Like Boys

Mit „Dressed Like Boys“ ist am 18. August das erste Album des gleichnamigen belgischen Musikprojekts erschienen. Dahinter steckt Sänger und Songschreiber Jelle Denturck, der in Belgien vor allem als Sänger der beliebten Indierock Band DIRK bekannt wurde. Diese haben schon zwei Alben mit Musik in der Tradition von Bands wie Weezer oder Pixies herausgebracht, und waren mit mehreren Singles in den belgischen Charts erfolgreich. Nichtsdestotrotz hatte Sänger Denturck mit Problemen zu kämpfen, denn viele Jahre litt er an Depressionen, und auch der Weg zur Akzeptanz seiner eigenen Sexualität war lang. Bereits im letzten Jahr hat er sich auf einigen Songs mit seinem Schwulsein künstlerisch auseinandergesetzt, und diesen Weg setzt er jetzt auf seinem ersten Soloalbum fort. Er befasst sich konzeptionell mit queeren Ikonen wie dem marokkanischen Entertainer Jaouad Alloul, oder historischen Ereignissen wie den Stonewall Riots. Auch musikalisch zollt er Künstler*innen Tribut, die schon zu Glam-Rockzeiten in den siebziger Jahren mit androgynen Looks oder queeren Fashion-Statements für mehr Sichtbarkeit und Diskussionsstoff gesorgt haben. Der Sound von David Bowie, Lou Reed, Queen oder Elton John findet ein Echo in den intimen Pianoballaden und den rockigen Artpop-Nummern von Dressed Like Boys.

Freitag, 19.09. 16:00h Indra
Samstag, 23:25h Nochtspeicher

 

Duo Ruut

Das estnische Duo Ruut verbindet auf eine sehr einzigartige Weise traditionelle Musik aus Estland mit elektronischem Ambient-Pop. Die Musikerinnen Ann-Lisett Rebane und Katariina Kivi spielen gemeinsam nur ein einziges Instrument, nämlich die Kannel, eine traditionelle estnische Zitter. Verbunden mit ihren beiden Stimmen und elektronischer Verfremdung entsteht ein schwebender, ätherisch anmutender Popsound, der ganz eigene Folk- und Rootsqualitäten mit sich bringt. Die beiden Freundinnen kennen sich schon aus Schulzeiten, und haben bereits in diversen Schulbands und Folkprojekten gespielt. Mit dem Duo Ruut sind sie mittlerweile auf der ganzen Welt aufgetreten, unter anderem beim Glastonbury Festival, und beim Radiosender KEXP, dessen Videosessions sich im Netz großer Beliebtheit erfreuen. In Hamburg präsentieren sie ihr neues und insgesamt zweites Album „Ilmateade“.

Mittwoch, 17.09. 22:00h Baalsaal

Grenzkontrolle

Die Kölner Band Grenzkontrolle ist mit nur einer Handvoll Songs zu einem der größten Geheimtipps des Jahres geworden. Das Quartett hat erst eine EP herausgebracht, aber die drei Songs auf „Edelweiß“ machen dem Titel alle Ehre – denn die Anspielung auf die antifaschistischen Edelweißpiraten, die in jungen Jahren von den Nazis hingerichtet worden sind, ist kein Zufall. Ihr Hit „Revolution“ präsentiert sich als wütende Kampfansage gegen menschenfeindliche Politik mit coolem Post-Punk-Sound im Stil von Fehlfarben oder Gang Of Four. Auf den Sommerfestivals dieses Jahrs musste die Nummer auf Wunsch des Publikums immer mehrfach gespielt werden. Der Refrain „Wo kommen wir da hin?“ geht einem tatsächlich lange nicht aus dem Kopf. Eine geplante Tour im Herbst hat die Band abgesagt, weil Bassist Klausi Vater geworden ist und die Band deshalb verlassen hat. Somit ist die Show in Hamburg eine der letzten Gelegenheiten, die Gruppe live zu sehen, bevor sie sich neu organisiert und nach einer kleinen Pause weitermachen wird.

Freitag, 19.09. 19:40h Kaiserkeller

Just Mustard

Die irische Band Just Mustard wird in Hamburg Songs ihres neuen Albums „We Were Just Here!“ präsentieren, welches erst nach dem Reeperbahn Festival am 24. Oktober erscheinen wird.

Material genug haben sie aber so oder so, denn 2018 erschien bereits ihr erstes Album „Wednesday“, und 2022 der Nachfolger „Heat Under“. Auf beiden Platten haben sie ihren Sound radikal nach vorne gebracht, denn sie sind zwar von klassisch-sanften Shoegaze-Bands wie Cocteau Twins oder Slowdive beeinflusst, gelten aber als deutlich lautere Nugaze-Gruppe. Was heißt das? Bei Nugaze wird der sphärische Sound des Shoegaze um laute und verzerrte Elemente aus Indierock, Doom, Nu Metal und Grunge erweitert, dazu kommen elektronische Sound und Beats, die das Ganze noisiger, beatlastiger, und post-punkiger klingen lassen. Ein Sound, der auch die Altmeister von The Cure überzeugt hat, und Robert Smitth dazu veranlasste, das Quintett aus Dundalk in Irland als Support Act mit auf Tour zu nehmen.

Donnerstag, 18.09. 22:30h Bahnhof Pauli
Freitag, 19.09. 19:00h Molotow

Léonie Pernet

Léonie Pernet aus Paris hat jetzt mit „Poèmes Pulvérisés“ ihr drittes Album zwischen Art Pop und Elektronik herausgebracht. Ihre Themen sind Identität und Migrationsbewegungen, und ihr Sound weist eine enorme Bandbreite auf. Von klassischer Musik über Pop, bis hin zu Spoken Word und afrikanischen, arabischen und experimentellen Klängen, reicht das Spektrum der Produzentin, Schlagzeugerin, Komponistin, und Sängerin. In Deutschland haben viele sie über ihre Zusammenarbeit mit der Stuttgarter Sängerin MINE kennengelernt, für den Fernsehender ARTE hat sie zudem bereits Sounds komponiert. Nicht zuletzt sind da noch ihre von der Kritik viel gelobten ersten beiden Alben „Crave“, und „Le Cirque de Consolation“, sowie ihre letzte große Komposition „Le Choeur Pulvérisé“, die im November mit Orchester und 12-köpfigem Chor in der Philharmonie de Paris aufgeführt worden ist.

Donnerstag, 18.09. 20:50h Nochtspeicher

 

Mel D

„Young Bones“ heißt das erste Soloalbum der Zürcher Musikerin und Liedermacherin Mel D. Ein hängengebliebener Spitzname für Melanie Danuser vom Schweizer Elektropop-Duo mischgewebe. Zusätzlich hat sie Soundtracks für das Theater, den Film und Ausstellungen produziert. All diese Einflüsse sind auf ihrem Solo-Debüt als Mel D spür- und hörbar. Die klassische Folkausrüstung mit Stimme und Gitarre nimmt sie als Grundlage für eine musikalische Reise durch Pop, Folk, Jazz und elektronische Musik. Produziert hat sie das Album mit Dino Brandão, der vor allem durch seine Auftritte mit Faber und Sophie Hunger bekannt geworden ist, und zu dessen Soloalbum „Self Inclusion“ aus dem letzten Jahr als Gästin Gesang beitrug. Ein weiterer wichtiger Part wurde vom zweiten Produzenten Renaud Letang aus Paris übernommen, der zuvor schon mit Feist und Chilly Gonzales zusammengearbeitet hat.

Mittwoch, 17.09. 19.00h St. Pauli Kirche
Freitag, 18.09. 12:45h Spielbude XL

Melike Şahin

Die türkische Sängerin Melike Şahin aus Istanbul ist vermutlich einigen noch als Sängerin der türkischen Psychedelic-Rock-Band BaBa ZuLa im Ohr. Danach hat sie mit dem deutschen Musiker Shantel und dem israelischen Künstler Kutiman zusammengearbeitet. 2021 erschien ihr erstes Soloalbum „Merhem“, anschließend veröffentlichte sie zwei Livealben. Mit „AKKOR“ folgte im Herbst Studioalbum Nummer zwei. Aufgenommen wurde in London, denn sie ist mittlerweile ein internationaler Star, so war 2024 ihre USA-Tournee durch die USA ausverkauft. Aufgewachsen ist mit traditioneller türkischer Musik, die sie durch ihren Vater kennenlernte. Dazu kommt türkische Rockmusik aus den siebziger und Jahren, und die Popmusik der Achtziger. Das neue Album hat sie quasi live im Studio eingespielt. Mit dabei sind Dave Okumu von The Invisible an der Gitarre, David Bowies langjähriger Schlagzeuger Sterling Campbell, sowie Violinist Raven Bush, der zuletzt auf den Platten von Beth Gibbons und Django Django mit dabei war.

Freitag, 19.09. 23:45 Mojo Club

Sinem

Mit„Köşk“ ist im Januar das erste Album des Anadolu-Postpunk-Trio Sinem aus München erschienen. Sängerin und Namensgeberin Sinem Arslan Ströbel besuchte in Oberbayern als einzige Person mit türkischen Wurzeln das Gymnasium. Dort musste sie sich vor allem durch Leistung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft rechtfertigen, wobei ihre türkischen Wurzeln in den Hintergrund traten. Der Wunsch nach Heimat und Identität wurde aber irgendwann so groß, dass er sich in Musik und Liedern Bahn brach. Auch sie ist inspiriert vom türkischen Pop und Psychedelic-Rock der 70er Jahre, geht aber musikalisch noch einen Schritt weiter als beispielsweise Derya Yildirim oder Gaye Su Akyol, indem sie ihre Musik um aggressivere Momente aus Punk und Post-Punk erweitert, und türkische Klassiker und eigene Songs singt. Sinem ist eine Band, nicht nur ein Soloprojekt. Mit dabei sind Produzent und Schlagzeuger Tom Wu, und Gitarrist Martin Tagar. Post-punkig-wütender Protestrock, der wunderbar jung, ungestüm und modern klingt.

Freitag, 19.09. 22:45h Grüner Jäger

 

Sofie Royer

 

Mit „Young Girl Forever“ ist Ende letzten Jahres das dritte Album der österreichischen Musikerin Sofie Royer erschienen. Als Sofie Fatouretchi Royer ist sie in Palo Alto in Kalifornien als Tochter einer Österreicherin, und eines Iraners zu Welt gekommen – genau genommen ist sie also eine amerikanisch-österreichisch-iranische Künstlerin. In Österreich ging sie zur Schule, und hat danach am Konservatorium in Wien klassische Geige studiert. Als multidisziplinär arbeitende Künstlerin zwischen Klassik, Pop und bildender Kunst, erschafft Sofie Reyer erstaunlich eingängige, und doch vielschichtige Popmusik. Sie verbindet Synthie-Pop, Italo Disco und Indierock, und singt auf deutsch, französisch oder englisch. Ihre Songs handeln vom Dasein als Künstlerin zwischen Kunst und Kapitalismus, zwischen eigenen Unsicherheiten, und der Bewertung von außen, und schließlich von der besonderen Rolle als Frau im Kultur- und Musikgeschäft, das nach wie vor von Männern dominiert wird. Beim Reeperbahn Festival tritt sie im Docks gemeinsam mit den Visual Artists PFA Studios x Marie Kauke in der Reihe Collide auf, bei der Musik und Kunst miteinander verbunden werden.

Mittwoch, 17.09. 17:00h Docks
Donnerstag, 18.09. 23:20 Knust