Das Andere Kino – Berlinale Retrospektive

Seit 1977 betreut die Deutsche Kinemathek die Retrospektiven der Berlinale, aber in diesem Jahr gab gleich zeige große Herausforderungen, die in ihrer geballten Form vielleicht einmalig in der langen Kooperationsgeschichte der beiden Institutionen ist: Zum einen steht ein Umzug der Kinemathek an einem anderen Standort in Berlin direkt bevor, und zum anderen musste die diesjährige Retrospektive sich auch mit vom Bund verhängten Sparmaßnahmen arrangieren.

Darüber habe ich mit der Programmkoordinatorin der Deutschen Kinemathek und Kuratorin der Retrospektive Annika Haupts gesprochen.

Radiointerview mit Annika Haupts von der Deutschen Kinemathek (20. Februar 2024 in Berlin)

Erst im Jahr 2000 ist die Kinemathek gemeinsam mit anderen Filminstitutionen in das damals neu geschaffene Filmhaus am Potsdamer Platz gezogen. Ein Ort, der unter anderem auch durch die Präsenz der Berlinale in den damals angesiedelten Multiplexen belebt werden sollte. Wie wir heute wissen, ein unmögliches Unterfangen. Kein Berliner und keine Berlinerin verirrt sich jemals in die unwirtlichen Hochhausschluchten dieses überteuerten Ortes. Und abgesehen von Touristen und Wirtschaftsbossen kommt freiwillig niemand dort hin. Das IMAX-Kino und die CineStar-Kinosäle sind längst verwaiste Ruinen, und nun weichen auch die im Kinohaus angesiedelt deutsche Film- und Fernsehakademie, das Arsenalkino mit zwei Sälen, und eben auch das Filmmuseum und die Kinemathek den Plänen von Umbau und Weiterverkauf dieser zentralen Fläche der Hauptstadt.

Zwar ist ein neu zu errichtendes, großes Filmhaus ist von der Politik in Aussicht gestellt worden, aber wann das passiert, ist heute noch gar nicht abzusehen. Die Kinemathek zieht bis auf weiteres in das ehemaligen Umspannwerk E-Werk, in den neunziger Jahren ein zentraler Ort der Berliner Technoszene, an der Mauerstraße gelegen, und damit sogar in relativer Nähe zum Potsdamer Platz. Dort werden dann 2025 auch vermutlich die ersten Veranstaltungen und Vorführungen der nächsten Berlinale stattfinden, auch wenn das noch nicht final bestätigt wurde. Es gibt nach der aktuellen Berlinale vermutlich genug Redebedarf über die zukünftige Ausrichtung des Festivals.

Vom Potsdamer Platz verabschiedet hat sich die Kinemathek mit einem kleinen, aber feinen Blick auf die eigene Arbeit. Zu sehen waren deutsche Filme seit den sechziger Jahren, die etwas abseits des bekannten Klassiker-Kanons von Fassbinder, Wenders, Schlöndorff und Co. stehen. Filme, die wiederentdeckt oder neu gesehen werden können, und die oft abseits großer Produktionsfirmen oder starker Vertriebswege entstanden sind. Deren Restauration und Neuveröffentlichung gehören zum aktuellen Schwerpunkt der Kinemathek.

Mit dabei waren sowohl mittlerweile als Kultfilme gewürdigte Werke wie Roland Klicks Außenseiter-Großstadtgangsterfilm „Supermarkt“ aus dem Jahr 1974, der in Anwesenheit der Hauptdarstellerin Eva Mattes und des Hauptdarstellers Charly Wierczejewsky gezeigt wurde, oder die Super 8 – Filmkollage „Jesus, der Film“ aus dem Jahr 1986, bei dem Undergroundfilmkollektive aus Ost und West gemeinsam auf unkonventionelle Art und Weise die Bibelgeschichte um den Messias neu interpretieren. Regisseur und Koordinator Michael Brynntrup war ebenfalls persönlich zu Gast, um die neu restaurierte Fassung zu präsentieren.

(Dr.Rainer Rother (Kinemathek), Charly Wierczejewsky und Eva Mattes bei der Berlinale-Aufführung von „Supermarkt“ im Cubix Kino am Alexanderplatz)

Dazu kam eine ganze Reihe von Filmen, die auch die Geschichte Berlins spiegeln, wie Will Trempers nächtliche Flughafenballade „Die endlose Nacht“ (1963), das kurz vor Mauerbau gedrehte deutsch-deutsche Melodram „Zwei unter Millionen“ (1961) mit Hardy Krüger, sowie Produktionen aus den siebziger und achtziger Jahren, die mit Themen wie Rassismus, Unterdrückung oder Männergewalt erstaunlich aktuell und heutig wirken, wie Ismet Elcis Undergroundkrimi „Kismet Kismet“ (1987) oder Helma Sanders-Brahms Sozialdrama „Shirins Hochzeit“ (1975). Insgesamt rund zwanzig Filme, die einen neuen und anderen Blick auf die jüngere deutsche Filmgeschichte freigeben.

Etwas internationalen Glanz konnte die Kinemathek aber auch in diesem Jahr dann doch noch versprühen, weil die ebenfalls von ihr betreute Reihe der „Berlinale Classics“ neu restaurierte Klassiker aus aller Welt ins Festivalprogramm brachte. Aufsehenerregend war hier vor alle die zum 70-jährigen Jubiläum des japanischen Monsterstreifen „Godzilla“ neu restaurierte Fassung, und die mit Live-Unterstützung der Berliner Philharmoniker uraufgeführte Restauration des von Ernst Lubitsch noch in Deutschland gedrehten Stummfilms „Kohlhiesels Töchter“ mit Emil Jannings aus dem Jahr 1920.

Apropos Lubitsch: auch sein 1929 dann im amerikanischen Exil gedrehter erste Tonfilm „Liebeparade“ mit Maurice Chevalier wurde in neuer Bild- und Tonqualität gezeigt, genauso wie Andrei Tarkovskys „Opfer“ (1986), und „Die Zeit Nach Mitternacht“ (1985) von Ehrenbär-Empfänger und Berlinale-Fan Martin Scorsese, sowie noch einige weiter Klassiker mehr.

Für die Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte bleibt die Arbeit der Kinemathek für die Berlinale ein unersetzlicher Baustein, wie die oft ausverkauften Vorstellungen zu den Klassikern in diesem Jahr erneut bewiesen hat. Es bleibt nun abzuwarten, was zusammen mit der neuen Berlinale-Chefin Tricia Tuttle ab 2025 aus dieser Vorlage gemacht wird.

Die ständige Ausstellung zur deutschen Filmgeschichte kann noch bis Ende Oktober dieses Jahres am Potsdamer Platz besucht werden, bevor sie in dieser Form für immer verschwindet.

(Dieser Beitrag erschien zuerst als Radiobeitrag in der Sendung „Filmriss – Das Berlinale-Magazin“, einem gemeinsamem Projekt der norddeutschen Bürgersender Kiel FM, Lübeck FM, Westküste FM, Tide Hamburg, Radio Leinewelle und Oldenburg Eins.)