Turn In The Wound – Berlinale Special
(Foto: © Rimsky Productions, Maze Pictures)
Auch in diesem Jahr ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine Thema im Programm der Berlinale. Seiner experimentellen Architektur-Doku „Architecton“ stellt der russische Filmemacher Victor Kossakovsky beispielsweise Bilder von zerbombten ukrainischen Wohnblöcken voran, während die ukrainische Regisseurin Svitlana Lishchynska in der eher still inszenierten Dokumentation „A Bit Of A Stranger“ die Auswirkungen des Krieges auf ihre eigene Familie thematisiert
Radiobeitrag
Der mittlerweile 72-jährige Amerikaner Abel Ferrara hat auf den ersten Blick wenig mit diesem Konflikt zu tun. Er begann seine Karriere in den siebziger Jahren mit Exploitationfilmen für das Bahnhofskino wie „Driller Killer“ oder „Die Frau mit der 45er Magnum“, bevor er in den neunziger Jahren zunehmend philosophische Aspekte in seine Genrebeiträge einfließen ließ; so zu beobachten im schwarz-weißen Vampirdrama „The Addiction“, oder in der Hip-Hop-Gangsterballade „King Of New York“.
Mit seinem Umzug nach Italien vor einigen Jahren ist Ferrara dann endgültig im europäischen Arthouse-Kino angekommen, wie sein 2020 auf der Berlinale gezeigtes Drama „Siberia“ zeigte. Und somit kommt der Krieg in Europa ebenfalls ins Spiel. Ferraras Frau stammt aus Moldawien, und wie der Regisseur selbst im Film erzählt, hat er in der Ukraine und in Russland Freunde. Nun ist der Regisseur deshalb noch lange kein Experte für Politik oder Osteuropa, und würde dies auch nie behaupten. Er bezeichnet sich selbst als einen intuitiven Filmemacher; als jemand, der aus dem Bauch heraus arbeitet. Journalistische Arbeitsweisen oder filmische Regeln sind ihm herzlich egal.
Samt Filmteam und Übersetzerin fährt er also an noch nicht mal genau genannte Orte in der Ukraine, und lässt zivile Opfer des Krieges und ukrainische Soldaten ungefiltert zu Wort kommen. Auch mit Präsident Wolodymyr Selensky hat er sich getroffen, ohne diesem wirklich etwas Neues zur Situation entlocken zu können. Dabei geht die Filmästhetik komplett über Bord. Zooms, Unschärfen, plötzliche Schwenks, Kameras oder Mikrofone, die unvermittelt im Bild auftauchen, nimmt er gelassen hin. Und wer sollte ihm auch schon Vorschriften darüber machen, was und wie er zu drehen hat?
Im Mittelpunkt stehen allein die Geschichten aus einem Leben in Furcht und Terror. In einem zweiten, zunächst fast völlig unzugehörig wirkenden Teil des Films, begleitet er die US-Sängerin Patti Smith bei einem Konzert mit dem Soundwalk Collective in Paris, bei dem sie musikalisch vertonte Poesie von René Daumal, Arthur Rimbaud und anderen Dichtern vorträgt.
Ähnlich wie bei seiner Dokumentation über die New Yorker Boheme in „Chelsea On The Rocks“ vermischen sich dann die verschiedenen Ebene zu einem tripähnlichen Traumzustand aus Wörtern, Bildern, Musik und Farben, wobei Patti Smiths Rezitationen über Krieg und Gewalt mit Filmaufnahmen der ukrainischen Front einen alptraumhaften Dialog beginnen, der genau so verwirrend wie verstörend wirken kann. Ferrara hat mehr Fragen als Antworten, so wie alle die diesem Konflikt hilflos zuschauen müssen. „Warum?“ und vor allem „Wie lange noch?“ scheint er vor allem sich selbst, aber auch das Publikum im Film zu fragen. „Turn In The Wound“ wirkt wie eine verzweifelte filmische Bitte um Frieden, geboren aus einer sehr persönlichen Ohnmacht gegenüber dem Krieg.
(Dieser Beitrag erschien zuerst als Radiobeitrag in der Sendung „Filmriss – Das Berlinale-Magazin“, einem gemeinsamem Projekt der norddeutschen Bürgersender Kiel FM, Lübeck FM, Westküste FM, Tide Hamburg, Radio Leinewelle und Oldenburg Eins.)