11 Tipps fürs Reeperbahn Festival
Nach zwei recht mageren Pandemie-Jahren startet das Reeperbahn Festival in Hamburg in dieser Woche wieder durch – und sogar fast in alter Größe.
Alles Gut? Nicht ganz. Erfreulich sind zunächst die weit über 350 Bands und Einzelkünstler*innen aus aller Welt, die das Festival wieder international machen. Davon spielen viele gleich mehrere Shows, sodass in den anstehenden fünf Tagen weit über 400 Konzerte zu erwarten sind. Dazu kommen hunderte von Diskussionsveranstaltungen, Filmen, Vorträgen, Lesungen und Workshops. Wie in der Zeit vor Covid-19 findet der große Teil davon in Clubs und Kirchen rund um die Reeperbahn statt. Geblieben sind ebenso die großen Open-Air-Locations auf dem Heiligengeistfeld, dem Festival Village und dem Spielbudenplatz – für alle, die sich noch nicht wieder so richtig in die vollen und engen Clubs trauen. Streaming-Angebote und Online-Specials wird es bei einem der weltweit wichtigsten Branchentreffen für Indierock und Indiepop auch diesmal wieder geben, insgesamt jedoch deutlich weniger als zuletzt.
Die aktuelle Corona-Verordnung der Stadt Hamburg sieht zwar keine Einschränkungen im Kulturbetrieb mehr vor, aber das Publikum blieb im Vorverkauf des Festivals wie bei Konzerten überall im Land lange Zeit eher abwartend. Die Diskussion um die Zukunft der Livemusik-Branche bleibt also auch in diesem Jahr ein bestimmendes, wenn nicht sogar das Thema auf dem größten Club Festival Europas. In erster Linie natürlich für diejenigen, die beruflich auf oder mit dem Festival zu tun haben: Konzertveranstaltende, Labelbetreibende. Musiker*innen, Promoleute, kurz gesagt: Alle aus der Musik- und Kulturbranche. Neben den Auswirkungen der Pandemie haben es Publikum und Branche zusätzlich mit Inflation und steigenden Preisen zu tun, was den Kauf von Konzertkarten nicht eben vorantreibt.
Ungeachtet dessen gibt es in Hamburg in diesem Jahr trotzdem ein absolut hochkarätiges Line-Up mit unbekannten und frischen Acts sowie ein Wiedersehen mit manchen schon liebgewonnen Künstler*innen. Die Auswahl der Tipps fiel daher nicht leicht, es hätten eher zwanzig statt elf Tipps sein können. Vorab erwähnenswert finde ich noch das Balthazar-Schwesterprojekt Warhaus aus Belgien, das vor einigen Jahren schon die allerersten Konzerte in Deutschland beim Reeperbahn Festival spielen durfte und in diesem Jahr samt Streichquartett in der ehrenwerten Erbphilharmonie auftreten wird. Dazu kommt mit den Whispering Sons eine weitere Band aus Belgien, deren ungestümen Post-Punk ich schon auf diversen Konzerten in Groningen bewundern konnte, sowie Gitarrist, Produzent und Ambient-Pionier Daniel Lanois, der seine Liebe zum Solopiano entdeckt hat. Darüber hinaus spielt die Berliner Rockband Oum Shatt fast sechs Jahre nach ihrem ersten Album einen ihrer seltenen Auftritte in Hamburg – mehr als buchstäblich eine Handvoll Gigs hat die Formation seit 2019 nicht gespielt. Weiterhin empfehle ich allerwärmstens die nun folgenden Shows. Wir sehen uns in Hamburg.
Al-Qasar
Thomas Attar Bellier, der Gründer dieses Psychedelic Rock Kollektivs, musste erst um die ganze Welt reisen, um schließlich in seiner Heimatstadt Paris den zündenden Gedanken für neue Musik zu haben. Al-Qasar nehmen psychedelischen Pop der sechziger und siebziger Jahre aus der Türkei, dem Iran und anderen Ländern des Nahen Ostens und verbinden ihn mit aktuellem Tuareg- oder Desert Rock aus dem Norden Afrikas. Auf dem ersten Album „Who Are We?“, welches am 16. September auf Glitterbeat Records erscheint, kommen illustre Gäste dazu. Neben experimentierfreudigen Indierocker aus der westlichen Hemisphäre wie Jello Biafra (Dead Kennedys) oder Lee Ranaldo (Sonic Youth) sind auch die in New York lebende sudanesische Sängerin Sängerin Alsarah (Alsarah & The Nubatones) und der Oud-Spieler Mehdi Habbab (Speed Caravan) mit dabei. Beim Festival wird das fünfköpfige Kollektiv um Bellier und Sänger Jaouad El Garougu ihren „Arabian Fuzz“ nach Hamburg bringen, der auch alle Fans von Imarhan oder Gaye Su Akyol erfreuen dürfte.
Samstag, 24.09. 22:00h Angie’s Nightclub
Blaue Blume
Vor drei Jahren hat die dänische Indierockband Blaue Blume ihr zweites Album „Bell Of Wool“ veröffentlicht. Gegründet vor mehr als zehn Jahren in ihrer Heimatstadt Kolding ist die Band mittlerweile in Kopenhagen zu Hause. Die relativ langsame Arbeitsweise der Gruppe, mit insgesamt nur zwei Platten in acht Jahren, ist unter anderem der Tatsache geschuldet, dass Sänger Jonas Smith lange Zeit mit Depressionen zu kämpfen hatte und die Existenz der Band mehrfach auf der Kippe stand. Kurz vor dem Auftritt beim Festival haben sie sich jetzt mit einer neuen Single zurückgemeldet. „Country“ ist eine sanfte und Akustikgitarren-basierte Variation ihres traditionell von Dream Pop und Shoegaze geprägten elektronischen Sounds. Die namensgebende Blaue Blume ist übrigens ein der deutschen Romantik entstammendes Symbol aus „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis aus dem Jahr 1802.
Donnerstag, 22.09. 16:00h Festival Village / Fritz Kola-Bühne
Donnerstag, 22.09. 23:10h Imperial Theater
Das Paradies
„TRANSIT“ heißt das zweite Solo-Album des Leipziger Musikers und Sängers Florian Sievers unter dem Namen Das Paradies. Sievers ist bekannt geworden als eine Hälfte des englischsprachigen Indiepopduos Talking To Turtles, das weiterhin aktiv ist. In Leipzig hat Sievers sich ein eigenes Studio aufgebaut, und vor ein paar Jahren begonnen Stücke auf Deutsch zu komponieren. 2018 erschien das erste Album von Das Paradies mit dem schillernden Titel „Goldene Zukunft“. Sievers erzählt lakonische Alltagsgeschichten, dabei poetische Innenansichten bietend. Textlich ist das alles oft ungewöhnlich und andersartig zusammengebaut, als es bei anderen deutschsprachigen Komponisten üblich ist. Musikalisch komponiert er vertrackten, vielschichtigen Dream Pop, der trotz seiner vielen Elemente immer elegant und melodisch daherkommt. Gäste auf dem aktuellen Album sind unter anderem Sven Regner von Element Of Crime, Antonia Hausmann und Wencke Wollny von der ebenfalls aus Leipzig stammenden Band Karl Die Große und der italienische Saxofonist Damian Dalla Torre.
Freitag, 23.09. 19:40h Indra
Sonntag, 25.09. 0:30h Nochtspeicher
Die Wände
Die Indierockband aus Berlin besteht aus Carsten von Postel, Mathias Wolff und Jann Petersen. 2013 gegründet brachten sie vor drei Jahren ihr erstes Album mit dem Titel „Im Flausch“ heraus. Seitdem wurde der Sound merklich verändert. Zugelassen haben sie so in Folge von Erfahrungen auf der letzten Tour freiere und improvisierter Elemente. Was dazu führt, dass zwei Stücke auf dem Album eine Spielzeit von 10 Minuten Spielzeit überschreiten; dabei ihre typischen Postpunkpfade verlassend und ganz in Krautrock und psychedelischer Tripmusik aufgehend. Erschienen ist das Album auf Glitterhouse; damit sind sie Labelkollegen von Die Nerven, zu denen ich ihnen eine gewisse Nähe in Sachen Haltung und Konzept unterstelle, auch wenn hier musikalisch andere Wege beschritten werden. Aufgenommen haben sie das selbstbetitelte zweite Album in Leipzig und Berlin mit Produzent Alexander Günther, selbst als Musiker mit Projekten wie Mellie, Ich Alexander oder Molde aktiv.
Samstag, 24.09. 20:25h Molotow / Karatekeller
Dina Summer
Zumindest auf dem Papier haben Dina Summer viel mit Italo Disco zu tun, aber das gilt nicht für alle Songs auf dem ersten Album des Trios – auch wenn der Albumtitel „Rimini“ oder ein Songtitel wie „Amore“ hier ganz bestimmte Assoziationen wecken. Dina Summer sind Max Brudi und Dina Pascal, aktiv als Duo Local Suicide seit 2014. In diesem Jahr brachten sie mit „Eros Anikate“ ihr Debutalbum heraus. Dritter im Bunde ist Jakob Häglsperger alias Kalipo, bekannt als Teil des Elektropunk-Kollektivs Frittenbude und mutmaßlich der Grund, warum das Album beim Label Audiolith landete. Jedoch gibt es auf „Rimini“ nicht nur Italo-Seligkeit: vielmehr finden hier Minimal Techno, New Wave, Darkwave und Synthiepop unter den Sonnenschirmen des Strandstimmung verbreitenden Covers zusammen. Bei einem Festival brachte ein zufälliges Backstagetreffen alles in Gang, sodass es nach einigen Einzeltracks mit „Rimini“ jetzt das erste Album von Dina Summer gibt. Und damit sind sie live auf dem Reeperbahn-Festival zu sehen.
Donnerstag, 22.09. 22:30h Moondoo
Donna Blue
“Dark Roses” heißt das erste Album des niederländischen Duos Donna Blue. Bart und Danique machen Musik, die von Sixties Pop, Filmmusik und Chanson inspiriert ist. Sie haben zuvor schon drei EPs herausgebracht, deren Klänge Assoziationen an Ennio Morricone, Scott Walker, Lee Hazlewood, Serge Gainsbourg oder David Lynch weckten. Die Kompositionen sind bewusst im Spannungsfeld zwischen Filmscore und Popsong gehalten und die Texte sind dem Storytelling beim Drehbuchschreiben nachempfunden. Handelnd von Außenseiter*innen und einsamen Herzen auf oft glückloser Suche nach Liebe bietet sich so das richtige Setting für die späten Stunden der Nacht, in denen sie ihren Auftritt beim diesjährigen Festival haben werden.
Sonntag, 0:30h UWE
Hatchie
„Giving The World Away“ nennt die australische Sängerin und Songschreiberin Harrietta Pilbeam alias Hatchie ihr zweites und aktuelles Album. Es folgt dem 2019 erschienen „Keepsake“ , welches diese moderne Popkünstlerin mit starkem Indie-Hitappeal erstmals vorstellte. Interessant ist ihre Musik aber vor allem, weil sie sich dabei immer wieder Elementen des Dream Pops und Shoegaze bedient, was eine schillernde Musikfarbe zwischen Pop und Experiment hervorbringt. Sie hat sich daher entsprechende Partner für die Produktion gesucht – wie den Schlagzeuger von Beach House, James Barone, und den hier Gitarre spielenden Produzenten Jorge Elbrecht, der schon Platten für Sky Ferreira oder Japanese Breakfast produzierte, sowie Songschreiber und Keyboarder Joe Agius, mit dem sie schon lange zusammenarbeitet. Es finden sich deutliche Spuren der Musik der neunziger Jahre in ihrem Sound, beispielsweise der Shoegaze-Wall Of Sound von Ride oder Slowdive, aber auch Spuren der poppigen Vertreter dieses Stils wie Lush oder Curve. Elemente aus Trip-Hop und Acid House ergänzen diesen wahrlich eklektischen Mix.
Mittwoch, 21.09. 23:15h Drafthouse
Heave Blood & Die
“Post People” ist das dystopisch betitelte aktuelle Album des norwegisches Sextetts Heave Blood And Die. Die fünf Männer und eine Frau, ursprünglich aus dem Doom-Metal kommend, haben sich mittlerweile Postrock, Noise und Progressive Rock zugewandt. Aus Tromsö am Polarkreis stammend ist die dort vorherrschende eisige Kälte ihren schneidenden und unterkühlt-stürmischen Arrangements und Kompositionen anzumerken. Das dritte Album bietet kompakte Songs, vermehrten Synthesizer-Einsatz, und geht generell melodischer zu Werk. Ein politaktivistisches Gesamtkunstwerk im Gewand eines Soundtracks zu einer postapokalyptischen Utopie, in der alte Hierarchien nicht mehr existieren, Kapitalismus, Klimakatastrophe und Kriminalisierung von Drogen keine Rolle mehr spielen und Gleichberechtigung erreicht wird. Noch ist es nicht so weit, aber die Musik zu ihrer Vision gibt es in Hamburg schon jetzt zu erleben.
Samstag, 24.09. 20:00h Indra
Kokoroko
Das achtköpfige britische Kollektiv Kokoroko ist bereits mit Preisen sowohl aus dem Jazz- als auch im Pop-Bereich ausgezeichnet worden. Und das alles wohlgemerkt noch bevor sie in diesem Jahr ihr Debütalbum „Could We Be More“ herausgebracht haben. Schuld daran sind vor allem die fantastischen Liveauftritte, die sie in den letzten Jahren auf der ganzen Welt gespielt haben, und die ihrem einzigartigen Sound zwischen Afrobeat, Jazz, Soul, Funk und Pop immer neue Fans zuführten – egal ob im englischen Glastonbury, beim Elbjazz in Hamburg, in Sao Paulo, im Boiler Room oder für die BBC in der Royal Albert Hall, und von den über 60 Millionen Streams weltweit gar nicht erst angefangen. Die Band selbst hebt gern ihre vielfältigen Einflüsse hervor, besonders aus dem nigerianischen Soul oder Afrobeat und aus Ghanas Highlife in der Tradition von Pat Thomas und Ebo Taylor.
Freitag, 23.09. 23:40h Mojo Club
Kratzen
Mit „zwei“ hat das vor gut sechs Jahren in Köln gegründete Trio Kratzen ein neues Album veröffentlicht. Wie vom Titel bereits zart angedeutet, ist es der Nachfolger des Debüts aus dem Jahr 2020. Bassistin Melanie Graf, Schlagzeugerin Stephanie Staub und Gitarrist Thomas Mersch komponieren hypnotisch-treibenden Postpunk und New Wave mit einem gehörigen Schuss Motorik a la Neu!, La Düsseldorf oder Rheingold. Krautwave also, aber mit einer manchmal eisig-vorwärtstreibende Strenge, die zeitweise extrem tanzbar daherkommt. Im kollektiven Sound gibt es wechselnde Stimmen und keinerlei musikalische Hierarchien. Alles ist gleich laut und gleich wichtig in dieser Musik. Obwohl Reduktion hier Programm ist, mit einem sehr präzisen Schlagwerk und repetitiven Bassläufen, entsteht keine Monotonie – oder höchstens eine sehr glücklich machende in ihrer düsteren Schönheit. Für das Album eingefangen hat das Produzent Olaf Opal, der ja schon für The Notwist, Odd Couple oder Woods Of Birnam tätig war, um nur mal einige seiner zahllosen Arbeiten in der deutschen Popmusik zu nennen.
Samstag, 24.09. 23:45h Molotow / Karatekeller
Lucy Kruger & The Lost Boys
Sängerin und Songschreiberin Lucy Kruger stammt aus Cape Town in Südafrika und lebt und arbeitet seit einigen Jahren in Berlin. Zunächst machte sie sich einen Namen als Teil des Duos Medicine Boy, ist aber bereits seit einigen Jahren als Solokünstlerin unterwegs. Jetzt hat sie ihr viertes Album „Teen Tapes (for performing your own stunts)” herausgebracht, welches den Abschluss einer Alben-Trilogie bildet, die sie 2019 mit „Sleeping Tapes (for Some Girls)” begonnen hatte, um es mit “Transit Tapes (for women who move furniture around)” fortzusetzen. Die Lost Boys sind inklusive Lucy ein Quartett, bei dem unter anderem die niederländische Soundkünstlerin und Avantgardegitarristin Liú Mottes vom Duo SOON mitspielt. Zunächst hat Lucy Kruger als Bedroom Produzentin alles allein bei sich zu Hause aufgenommen, aber mittlerweile nimmt die Produktion größere Ausmaße an. Folkpop, Dream Pop, Psychedelia, etwas Drones und Ambient, ein minimalistischer Stil, sparsame Arrangements, zuweilen sehr leise – aber die Lost Boys können auch anders. Beim Berliner Synästhesie-Festival im letzten Herbst standen insgesamt sechs Musiker*innen auf der Bühne plus Laura Carbone als Gastsängerin. Die drei Gitarrist*innen nebst einer Viola sorgten für einen Wall Of Sound mit fast postrockiger Wucht sowie Feedback im Geiste der seligen Velvet Underground. Sehr empfehlenswert.
Samstag, 24.09. 19:45h Grüner Jäger